Episode 1 Des Teufels Finger I - Lügengespinst

Kapitel 1

Piemont, in den Wäldern um Burg Montemano im Juni 1557

„…und den Hund lässt du erst auf mein Zeichen von der Leine!“ Lauro[1] sah zu seinem kleinen Bruder und blies in die Tröte, der er den Laut einer Wildente entlockte.

„Ja, ich habe es kapiert, Lauro“, beschwerte sich Fausto ungeduldig. „Wie oft willst du es mir noch erklären? Ich bin doch kein Kind mehr!“

Versöhnlich lächelnd wuschelte Lauro ihm den Haarschopf und ging zurück zu seiner Fuchsstute, die er unweit an einen Baum gebunden hatte.

„Ungestüm wie eines deiner Fohlen, Luisa“, kommentierte er die Ungeduld des Bruders.

Er zog ein Lederbändchen aus dem Wams und band damit seine halblangen Haare im Nacken zu einem Zopf zusammen. Es ging ein leichter Wind und er wollte nicht, dass sein Raubvogel bei der Jagd abgelenkt würde.

Bevor sich Lauro dem Falken widmete, hakte er der Stute das Trensengebiss aus. Er lockerte den Sattelgurt und schnallte ihr einen gutgefüllten Hafersack vors Maul. Nach einem letzten Tätscheln am Pferdehals ließ er den am Sattel festgemachten Gerfalken, der noch das Lederhäubchen auf dem Kopf trug, auf seinen behandschuhten Unterarm steigen. –

„Dann los!“ Lauro war wieder bei Bruder und Hund.

Fausto nickte eifrig und fasste Cesare, den weiß-orange geschimmelten Spignone italiano, fest bei der Leine.

„Und ab jetzt…“ Mit einem Finger über den Lippen signalisierte Lauro, dass sie von nun an schweigen und sich ausschließlich durch Zeichen verständigen würden.

„Ja, ja.“ Fausto verdrehte zappelig die Augen.

Wieder lächelte Lauro. Er nickte und begann, eine schützende Hand vor dem Falken, sich langsam und leise durch das vor ihnen liegende Dickicht zu arbeiten.

Sofort, als sie im Unterholz schlichen, fing der Hund an zu wittern. Pausenlos bewegte sich die Hundenase. Zunehmend gespannt zeigte sich aber nicht nur die Körperhaltung des Jagdhundes, sondern auch die seines jungen Führers…

Am Rande einer Lichtung war Lauro gewiss, dass Cesare die Nähe eines Wildvogels anzeigte.

Behutsam löste er die Lederriemchen, die die Krallenfüße des Raubvogels hielten, und nahm ihm das Häubchen vom Kopf. Danach warf er ihn kraftvoll in die Luft. Augenblicklich stieg der Falke in die Höhe.

Lauro sah ihm nach und wartete, bis der Vogel, einige Kreise gezogen, über ihnen verharrte.

Auf den Lockruf der Tröte ließ Fausto Cesare von der Leine. Dieser stob aus dem Unterholz in das hohe Gras der Lichtung und zeitgleich flüchtete ein prächtiges, buntschillerndes Fasanenmännchen mit lautem Gegacker in das Lichte des offenen Waldstückes.

Pfeilschnell schoss Lauros Falke daraufhin im Sturzflug vom Himmel. Als er die Flugbahn des Fasans erreicht hatte, öffnete er seine Schwingen und schlug dem begehrten Vogel die Klauen in den Leib. Mit ihm am Boden, begann er sofort das Rupfen seiner Beute.

„Lauf, Fausto, schnell!“, rief Lauro dem Bruder zu, der bereits die Beine in die Hand genommen hatte. Noch während Fausto rannte, griff er in seine Umhängetasche und zog ein Stückchen frisches Fleisch hervor. –

„Geschafft. Gut gemacht.“ Lauro trug seinen Raubvogel wieder auf dem Unterarm. Lobend strich er ihm übers Gefieder, während der Falke mit der scharfen Spitze seines Schnabels gierig am Fleischstück riss, das Fausto ihm anstatt der Beute untergeschoben hatte.

Stolz nahm Fausto den erlegten Fasan an sich. Er begutachtete das Federkleid und den ausgewachsenen, eine üppige Fleischmahlzeit verheißenden Vogelkörper. Danach verschnürte er beflissentlich dessen Beine und sah erwartungsfroh zu Lauro. „Weiter?“

Der große Bruder nickte und erneut schoben sie sich gebückt und lautlos durch das umliegende Dickicht, bis Cesares Nase unruhig zu zucken begann…

Wieder konnte man einen Raubvogel in den Lüften erst kreisen, dann ruhig abwarten sehen. Wieder schoss ein Hund aus dem Dickicht und wieder schrie ein Wildvogel auf…

„Genug für heute“, beendete Lauro Stunden später die Beizjagd. „Mehr brauchen wir wirklich nicht, Fausto. Wer soll denn das ganze Fleisch essen?“

„Gut, Bruder. Aber nächste Woche gehen wir wieder auf die Pirsch. Versprochen?“ Faustos Jagdeifer war ungebrochen.

„Versprochen. Falls das Wetter passt und wir schon wieder Appetit auf Fasan haben.“

„Es gibt ja auch noch die Rebhühner oder die Hasen oder…“

Lauro winkte lachend ab und setzte den Raubvogel auf den Knauf seines Sattels.

Fausto gab keine Ruhe. „Oder wir nehmen die Armbrust und holen uns ein Borstenvieh. Denn ich erinnere mich“, betonte er neunmalklug, „wie Mutter letzthin äußerte, sie hätte so Appetit auf eine Wildschweinpastete.“

Lauro wurde strenger. „Fausto, bevor du mit einer Armbrust auf ein Wildschwein zielst, führt die Varaita[2] noch öfter Hochwasser.“

„Du wirst es sehen. Ich frage Vater und der erlaubt es.“

„Einverstanden“, kommentierte Lauro. „Frage Vater und wir reden darüber, nachdem unser Fluss noch einige Male über die Ufer getreten ist.“

Fausto schnaufte trotzig.

„Willst du wieder mitreiten?“ Während Lauro das Trensengebiss einhakte, schickte er Fausto einen versöhnlichen Blick. Schließlich waren sie zu zweit auf der Stute in den Wald aufgebrochen.

„Nein, nein. Wie ich dich kenne, schlenderst du in einer halben Ewigkeit zurück nach Hause. Ich will Vater sofort zeigen, was wir gejagt haben. Und Hunger, ja, Hunger habe ich auch!“ Der Jüngling warf die erlegten Fasane über seine Schultern und rannte los. Cesare folgte ihm auf dem Fuße. Übermütig sprang der Hund umher und haschte nicht nur nach der Jagdbeute, sondern auch nach der wohl verlockend nach Fleisch duftenden, um Faustos Hüften schlenkernden Umhängetasche.

Schmunzelnd sah Lauro den beiden hinterher.

Mit der Stille, die ihn umfing, als Bruder und Hund hinter der nächsten Kurve verschwunden waren, mit dem leisen Rauschen des Waldes und dem gelegentlichen Schnauben seiner Stute, kehrte seine geliebte Ruhe in ihm ein.

Aufrecht im Sattel, den Raubvogel auf dem angewinkelten Unterarm, genoss Lauro den Duft der Natur und ergab sich seinen Grübeleien.

Nach einem Ritt in gemächlichem Schritt tauchte sie vor ihm auf, die elterliche Burg…

Auf Burg Montemano, am gleichen Tag im Juni 1557

„Ihren Hafer hat sie aufgefressen, Korbinian.“ Nachdem Lauro den Gerfalken in die Voliere gebracht hatte, reichte er dem Pferdeknecht die Zügel der Stute und den leeren Hafersack. „Tränke sie reichlich und reibe sie gut mit Stroh ab. Die Bremsen haben ihr wieder zugesetzt, heute im Wald, drückend wie das Wetter war.“ Lauro rieb an seinen Insektenstichen.

„Ja, junger Herr, wie Ihr wünscht.“ Der Knecht verneigte sich und führte Lauros Fuchsstute in Richtung der Stallungen. „Dann komm, Luisa. Warst du wieder eine Brave, heute“, hörte man den hochgewachsenen Blondschopf mit der Statur und Kraft eines Hünen: Mitunter ungehobelt und grob zu seinen ihm gleichgestellten Mitmenschen, war der Teutsche[3] dennoch einer der sanften und einfühlsamen Pferdeknechte. Noch nie hatte Lauro gesehen, wie Korbinian eines der ihm anvertrauten Rösser anschrie oder gar schlug und man spürte, dass die Tiere ihm vertrauten. – Lauro mochte ihn.

Er sandte Pferd und Knecht einen wohlwollenden Blick nach und wandte sich eilig zur Burg. Hatte er sich für seinen Heimritt ausgiebig Zeit gelassen, musste er sich nun sputen, um zum abendlichen Mahl mit Eltern und Bruder nicht zu spät oder gar unzureichend gesäubert und gekleidet zu erscheinen. Zöge er damit umso mehr den Unmut seiner Mutter auf sich, der ihn seit einer Weile des Öfteren traf…

Wohl einst zum Schutz war die Montemano‘sche Burganlage auf der Kuppe eines bewaldeten Hügels errichtet. Uneinsehbar über dem Ort Venasca gelegen, erreichte man von dort aus das trutzige Natursteingemäuer in einem gut halbstündigen Fußmarsch. Das zu ihrem Bau verwendete, für die Gegend typische Schiefergestein fügte sich auf das Trefflichste in die Landschaft ein. Grün-weiß ausgeflaggt, flatterten die Burgfahnen das ganze Jahr über fröhlich im Wind. An Fenstersimsen und Mauervorsprüngen befestigte Blumenkästen, reichlich bepflanzt mit Nelken, betupften das Gemäuer dazu in den Sommermonaten mit weithin schillerndem Purpur.

Von der Burg selbst bot sich ein herrlicher Rundumblick:

Gen Osten blickte man weit in die Ebene nach Costigliole Saluzzo und Savigliano, in welcher der Burgherr Ländereien sein Eigen nannte und großflächig Obstbau betrieb. Wendete man sich gen Westen, erhoben sich, klares Wetter vorausgesetzt, die vorgelagerten Berge der Cottischen Alpen. In Norden und Süden umgaben die Burg allerlei Hügel. Bewachsen mit dichtem Mischwald, zeigten sie sich sattgrün in Frühling und Sommer, bunt-golden schillernd im Herbst und schneeweiß bedeckt im kurzen, aber intensiven Winter. Sah man nach oben, zum Himmel, waren es die selteneren Momente, in denen kein Greifvogel in den Lüften kreiste und seine schrillen Rufe ertönten. Die kleinwüchsigere Vogelwelt bescherte dazu ein unablässiges, mit dem Sonnenaufgang beginnendes Konzert aus Gezwitscher, das im Sonnenuntergang die Grillen mit ihrem Gezirpe bis spät in die Nacht hinein fortsetzten.

Um die Burg selbst hatte man Waldstücke gerodet und diese dienten als Blumenwiesen, aber auch als Weiden für die Pferde der Burgbewohner. Einige der dort früher gestandenen alten Apfelbäume waren nicht aus der Erde gerissen worden und an ihren Früchten labten sich nun die Rösser je nach Reifezeit und Laune.

Die nördliche Hälfte der Burganlage war auf einem tief und steil abfallenden Felsen errichtet, um einen feindlichen Angriff aus dieser Richtung auszuschließen. Den südlich sanft auslaufenden Hügel dagegen nutzte man, um die Burg komfortabel zu bewohnen. Auf die Anlage eines Burggrabens hatte man, vor allem wegen der felsigen Nordseite, verzichtet. Demnach gab es dem wuchtigen Burgtor vorgelagert keine Zugbrücke, die man hätte hochziehen und sich zusätzlich verschanzen können. Im Gegenteil. Das Tor blieb zumeist geöffnet und man gewährte praktisch jedermann Zugang zum Burghof. Vertrauen signalisierte man an die Umgegend und, außer vielleicht einem Tagedieb, der für sein tägliches Brot die Finger streckte, verehrte man die Familie der Montemano‘s zu sehr, als dass man ihr Schaden zugefügt hätte. Trotz unsicherer Zeiten als Wohltäter bekannt, hüteten die ansässigen Bauern und Siedler den Conte[4] Giovanni di Montemano in Dankbarkeit wie ein Kleinod. Er ließ sie in seinen Obstplantagen und Esskastanienwäldern für gerechten Lohn arbeiten. Dieser genügte, um die Familien gut zu ernähren. Niemand litt Hunger und sonntags brutzelten die Hausfrauen nicht selten ansehnliche Stücke des geliebten piemontesischen Rindfleischs in ihren Pfannen.

Vor allem den älteren der beiden Söhne, Lauro di Montemano, trafen, wenn man sich zur sonntäglichen Messe in der Parocchia von Venasca einfand, verliebte Blicke. Er gefiel, mittelgroß wie er war, dabei stattlich und muskulös, immer gekleidet in Gewänder aus feinem Kammgarn und Rauleder, gehalten in den Farben grün und braun, geschmackvoll, aber eher bodenständig als elegant. Passend zu seinem haselnussbraunen Haar steckten seine Beine zumeist in farbengleichen, kniehohen Lederstiefeln. Wie haschte die Weiblichkeit nach einem Blick aus seinen warmen, blaugrauen Augen oder einem Lächeln aus seinem wohlgeformten, verlockenden Mund! Jedoch, nicht einmal schien ihm auch nur einer der heimlichen Annäherungsversuche aufzufallen. Zurückhaltend freundlich sah er sich um. Seine Augen ruhten aber nie länger auf einer der heiratsfähigen Töchter, sodass man den Eindruck hätte gewinnen können, er nähme überhaupt eine der Frauen in ihrer Persönlichkeit wahr. Still war er, in sich gekehrt und zumeist grübelnd.

Ganz anders der aufgeweckte kleine Bruder: Kaum achtzehnjährig, war er neugierig. Ungeniert und offenherzig wanderten seine Blicke während des Gottesdienstes oder wann immer man ihn sonst entdeckte. Jedermann sah er unverblümt ins Gesicht, lachte, versuchte, Stimmungen und Gedanken zu ergründen. Stets vermittelte er den Anschein, er sei mit allem beschäftigt, nur nicht mit sich selbst. Doch dieser Schein trog. Fausto war wissbegierig und kontaktfreudig. Er lechzte nach Leben und verinnerlichte dabei jeden seiner Eindrücke.

Eines jedoch war beiden Brüdern gleich. In ihrer Heimat fühlten sie sich wie im Paradies:

Pilz- und wildreich war die Gegend, üppig und buntgemischt der Wald mit seinen Marroni, Buchen, Steineichen und den schlanken Birken mit ihrer schneeweißen Rinde, der weiche Boden bedeckt von fein duftenden Walderdbeeren, tiefblau leuchtenden Heidelbeeren, prallen Brombeeren und wildem, die Erde gleich einem zartvioletten Blütenteppich schmückenden Thymian, betörende Aromen ausströmenden Majoran…

Zumeist war es aber Lauro, der in aller Frühe auf den schmalen steinigen Pfaden durch die Hügel der Gegend streifte. Fasziniert von den Eindrücken der Natur, die sich ihm boten, ließ er sich verzaubern, gleich welche Jahreszeit es hatte:

Im Sommer war es der angenehm kühle Morgentau, niedergeschlagen auf das satte Grün und die zahllosen großen und kleinen Schiefersteine, die den Boden übersäten, und, so angefeuchtet, wie magisch glitzerten. Im Herbst durfte ihn der dichte Nebel umhüllen, der sich anmaßte, seine Blicke auf die intensiven Herbstfarben zu zügeln, um ihn dafür mit würzigen Düften des gefallenen Laubs zu entschädigen. Im Winter betörte ihn der frische Schnee. Die Natur mit kristallenem Weiß für wohligen Schlummer sanft zugedeckt, ließ er ihm als aufmerksamen Betrachter dennoch das Frühlingserwarten der Knospen an Bäumen und Sträuchern für vorfreudige Aussichten durchscheinen. Zartes Grün, zuverlässiges Wiedererwachen der Pflanzenwelt und das Plätschern der klaren, mit Schmelzwasser angefüllten Bäche berauschten ihn im Frühling.

Lauro di Montemano war gottesfürchtig bis in seine tiefste Seele. Ohne dass es ihm eine sonntägliche Predigt zurufen musste, kam dieses Empfinden aus seinem Innersten. Ausgelöst durch die ihn alltäglich umgebende himmlische Natur wuchs es in ihm seit seiner Geburt. Fest verwurzelt in der Heimat und ihren Traditionen würde Lauro alles tun, nur eines nicht – die Burg seiner Eltern jemals verlassen.

Ende Episode 1 Musik: https://www.epidemicsound.com/track/jmEBoC70XJ/ ES_Affectionate Love – David Celeste

[1] sprich: La-uro ; italienischer männlicher Vorname (der Lorbeerbekränzte)

[2] Gebirgsfluss, aus den Cottischen Alpen kommend, namensgebend für das Valle Varaita, mündet in den Po

[3] veraltet für deutsch

[4] ital. Graf