Episode 3 Des Teufels Finger I - Lügengespinst

Fortsetzung Kapitel 1

Auf Burg Montemano im Juni 1557

„Nun, begonnen im Monferrato, mein Sohn, durchaus auch in der Lombardei, in Ligurien, Savona, Genua. Überall hat es schöne, standesgemäße Töchter! Ich werde sie einladen, zu einem Ball auf unserer Burg, noch im kommenden Monat!“

„Eleonora, bitte…“ Auch heute versuchte Giovanni di Montemano, seine Gattin zu beschwichtigen. „Meinst du denn, eine von Genuas Töchtern verirrt sich nach Montemano?“ Ihn ängstigte, dass man sich lächerlich machte, denn er zählte sich eher zum unscheinbaren Landadel. Durchaus vermögend, war Lauro zwar ein stattlicher Gatte, auch war streng auf seine Bildung geachtet worden. Doch er war kein Mann von Welt. Er bewegte sich nicht einmal in Kreisen des jungen Landadels der Umgegend, in Saluzzo, Savigliano, Fossano, Bra… sondern immer nur im Wald um Montemano.

Wie wäre Giovanni glücklich, seinem Sohn die Bitte einer Liebesheirat zu gewähren! Er war sich im Klaren, dass er ihm längst eine Braut hätte bestimmen und ihn verheiraten müssen. Schlicht – er hatte es bisher nicht übers Herz gebracht.

„Was soll das heißen?!“, riss ihn seine Gattin energisch auffahrend aus seinen Gedanken. „Willst du uns etwa unter den Scheffel stellen?!“

„Keinesfalls“, hob Giovanni flehend seine Hände, „nicht unter den Scheffel. Aber Genua ist nun einmal Genua. Schiffe, Hafen, Palazzi, Reisende und Händler aus aller Herren Länder… und Montemano…“

„…das sind wir!“, schloss Fausto spitzbübisch seines Vaters Satz. Er richtete sich stolz auf, hob den Kopf und reckte die Brust. Dazu begann er, gleich einem Hahn zu stolzieren. Nur mühsam verbiss er ein Lachen.

„Du bist still, Junge! Sonst gibt es auf Montemano alsbald eine Doppelhochzeit! Ach, ich bin es so leid! Immer dieser Kampf allein als Frau unter euch Männern.“

Eleonora drückte auf die Tränendrüse. Sie fühlte sich in ihren Argumenten entkräftet, gab sie ihrem Gatten im Grunde recht: Wo nur ließe sich eine Frau finden, ihrem älteren Sohn ebenbürtig? Gleichsam versonnen und in sich gekehrt? Sie wankte hin und her zwischen dem Wunsch, Lauro glücklich zu sehen und trotzdem eine Tochter von Rang und Namen ins Haus zu holen.

Ihr Ansinnen, Mitleid von Gatte und Söhnen zu erhaschen, verlief im Sande. So schimpfte sie weiter. „Dann wird sich Lauro eben besonders bemühen müssen! Und deshalb“, jetzt sah sie ihm direkt ins Gesicht, „habe ich den Schneider bestellt! Schon morgen kommt er und nimmt Maß von dir für ein seidenes Wams und passende Beinkleider! Und Strümpfe wirst du tragen und elegante Schnallenschuhe, ganz nach der Mode, und nicht immer dieses ewige…, ewige…“ Sie suchte nach Worten. „Wald und Wiese!“, quoll es aus ihr hervor.

Lauro seufzte schwer. Er sah sich bereits aufgeputzt einem Reigen erwartungsvoller junger Damen gegenüber, die Musik aufspielend, er in der Pflicht, eine der Töchter zum Tanz aufzufordern. Nein, eine nach der anderen, wenn es nach dem Willen seiner Mutter ginge… Notgedrungen würde er sich fügen. Einmal musste es sein.

„Und deshalb habe ich die Filzpantoffeln bestellt, unter denen du bald kauern wirst, Bruderherz!“, platzte Fausto wiederum übermütig und unbeschwert in die bedrückte Runde. Seiner Meinung nach war man lange genug ernst gewesen. Es war höchste Zeit, um wieder fröhlich zu sein!

Dankbar stimmte Lauro ein. „Und ich“, stieß er die in seiner Brust festsitzende Luft aus, „besorge dir eine Braut. Und zwar eine liebestolle und gar zu fette. Damit du bei deinen allabendlichen ehelichen Pflichten ihr gegenüber erst einmal ein Quintale[1] Fett schaufeln musst und so deine überschüssige Kraft loswirst.“

Lachend packte Lauro seinen nun kreischenden kleinen Bruder. Er warf sich mit ihm auf den Boden und sie rollten zu Füßen ihrer Eltern über die Teppiche.

Eleonora wollte ihre tollenden Söhne schelten, doch Giovanni hielt sie am Arm zurück.

„Lass sie, meine Liebe“, schickte er versöhnlich zu ihr. „Wir werden uns bald wünschen, uns Sorgen über die Tollheiten unserer beiden Sprösslinge zu machen, glaube mir.“

Bedrückt sah er seiner Frau in die Augen. Er küsste ihr die Wange, erhob sich und ging. Er musste mit Lauro reden, über die Botschaft, die seit über einem Monat in seinem Schreibpult lagerte!


Im Gemach, von dem aus Giovanni di Montemano die Verwaltung seiner Ländereien erledigte, entnahm er wenig später einer Schublade jenes sorgsam aufgerollte Dokument.

Verschnürt mit einer Kordel prangte das Siegel des französischen Königs daran…

„Es muss sein, Giovanni“, sprach er zu sich selbst. „Bevor es zu spät ist und sie ihn holen, ohne dass du ihn vorgewarnt hast. Nie würde er es dir verzeihen und du dir selbst auch nicht.“ Er atmete tief, dann ließ er nach Lauro rufen.

„Mein liebster Lauro“, gebot Giovanni seinem Erstgeborenen mit ernstem Blick, sich auf einen der schweren Lehnstühle vor dem Schreibpult zu setzen. „Auch wenn deine Mutter immer schimpft, in einem Punkt müssen wir ihr Recht geben: Wir Montemano‘s haben Verantwortung unseren Besitzungen gegenüber und vor allem den Untergebenen, den Abhängigen. Wir sichern ihnen ein Dach über dem Kopf und ein warmes Feuer im Herd. So führe dies fort und erhalte die ehrenwerte Linie der Montemano‘s. Nimm dir ein liebes Weib und lasse bald das Lachen deiner Kinder über den Burghof schallen.“

Giovanni“, schalt er sich lautlos. „Es gibt Anderes zu reden. Verstecke dich nicht hinter den Heiratsplänen!

Beschämt sah Lauro zu ihm. Er wusste es nur allzu gut: Sein Vater rief ihm in diesem Moment ins Gedächtnis, was er gerne von sich schob. Er hatte nicht nur Geburtsrecht, er hatte auch Pflichten. Seine Gedanken galten immer nur ihm selbst, in Angst, ein Gleiches erleben zu müssen wie sein Freund Vicenzo.

„Bitte verzeiht!“ Lauro sprang zu seinem Vater und fiel vor ihm auf die Knie.

Liebevoll strich Giovanni über Lauros gesenkten Kopf. „Weißt du, mein Sohn, deine Mutter meint ein Gleiches, wenn sie dich rügt. Nur findet sie nicht die Worte…“

…so wie du selbst. Findest du diese auch nicht.“ Abermals ermahnte sich Giovanni. „Rede mit ihm, jetzt!

Lauro nickte stumm. Er erhob sich, um zu gehen, doch sein Vater war hinter dem Schreibpult aufgestanden und hielt ihn zurück. „Mein Sohn, bleib!“

Des Vaters schwere Stimme, vor allem aber dessen Blick ließ Lauro aufmerken: Dieser war nicht mehr nur ernst, sondern zutiefst betrübt.

„Was, Vater?“ Erschrocken riss er die Augen auf. „Habe ich Euch noch mehr Kummer bereitet? Ich…“

„Nein, nein, um Gottes willen, mein Sohn, nein! Nicht wegen einer Verfehlung mache ich mir Sorgen. Um dich selbst geht es.“ Giovanni griff nach dem Befehlsdokument und reichte es seinem Sohn.

Unsicher nahm Lauro an. Er besah das Siegel des französischen Königs, entrollte das Schreiben und las.

„Vater“, hauchte er kurz darauf fassungslos. „Ich soll in den Krieg ziehen! In den Krieg! Wo getötet wird!“

„Ja, mein Sohn, es ist zu befürchten, so, wie die Dinge sich entwickeln.“ Giovannis Stimme zitterte.

Lauro sank zurück auf den Lehnstuhl. „Warum nur, Vater, warum herrscht bei uns Krieg? Niemandem tun wir etwas zuleide, wir Piemontesi. Niemand nennen wir unseren Feind.“ Erschüttert ließ er das Pergament zu Boden gleiten. Er senkte den Kopf und stützte ihn schwer in seine Hände.

Giovanni di Montemano‘s Herz krampfte nicht nur beim Anblick seines Sohnes, sondern ebenso bei den Gedanken an die Katastrophe der Heimat – für einige Zeit des Stillstands von sich gewiesen…

„Das ist wahr, mein Sohn.“ Giovanni atmete schwer. „Wir nennen niemand unseren Feind. Aber wir sind leider eine Schachfigur, im leidigen Machtgerangel zwischen Frankreich und Spanien. Und dies schon ziemlich lange. Bloß betraf es uns bislang nur am Rande.“

„Was denn für eine Schachfigur?“ Lauro sah zu seinem Vater auf.

„Du warst noch ein Kind, damals, anno 1536. Frankreichs König Franz I. ließ 30.000 Mann in den Piemont einmarschieren, als weiteren Schachzug gegen seinen Erzfeind Karl V. Der hatte sich die Kaiserkrone erkauft, die Frankreich selbstredend für sich beanspruchte. Und was lag da näher, im Gegenzug einen gewichtigen Kaisertreuen zu demütigen? Den Herzog von Savoyen zu entmachten und ihm sein Herzland, unseren Piemont, zu entreißen?? Habsburg duldete, es gab andere Nöte. Nämlich den Türken, der mit seinem Krummsäbel vor den Toren des Abendlandes fuchtelte. Und jenen Mönch, Martin Luther, der mit Wucht an den Grundfesten der Kirche rüttelte und die deutschen Fürsten gegen den Kaiser aufbrachte.“

„Aber Vater, König Franz I. ist tot und Karl V. dankte letztes Jahr ab…“

„Genau darum geht es, Lauro. Spaniens Thronfolger Philipp II. entfachte den väterlichen Zwist aufs Neue. In Rom ließ er seine Truppen wüten, wegen des Papstes Weigerung, sich seiner Macht zu beugen und dem Bündnis mit Frankreich zu entsagen. Und Frankreichs neuer König antwortet ihm.“

„Indem er im Piemont Krieg führt? Aber, Vater, das verstehe ich nicht. Eben sagtest du, wir seien seit 1536 in Frankreichs Hand.“

„Ja. Wir sind in ihrer Hand! Aber wir sind ihnen keine Heimat! Wir sind ihnen nichts als eine Vorratskammer, ein auszuschlachtendes Territorium, ein Tummelplatz für Schlachten. Die Heimat sind wir für die Savoyer.“ Giovanni di Montemano klagte bitter. „König Heinrich führt hier keinen Krieg. Er lässt den Piemont zugunsten Frankreichs ausplündern, durch den unseligen Marschall de Brissac. Freie Hand gewährt er ihm und seinem Heer, seinen Söldnerscharen aus Abenteurern. Angelockt nicht von der Aussicht auf schmalen Sold, sondern vom Reiz der Zügellosigkeit und ungestrafter Dieberei. Hemmungslos wird verwüstet, verbrannt, entehrt und gemordet. Die Gegend um Asti und auch Cherasco ereilte bereits dieses Schicksal. Jetzt befürchtet Cuneo eine Belagerung…“ Giovannis Blick wanderte in die Ferne. „Was Montemano sonst zum Nachteil gerät“, sinnierte er, „nämlich unsere Abgeschiedenheit und unser Hinterwäldlerdasein, wähnte ich stets als Vorteil, im Vermeinen, unser Tal läge abseits der Heeresrouten. Schließlich führt es praktisch ins Nirgendwo und Heere lassen sich nicht durch unbesiedelte, unwegsame Täler und über schroffen Fels dirigieren. Obenauf redete ich mir ein, außer Früchten gäbe es bei uns nichts zu holen…“

Giovanni musste nicht aussprechen, das es auch im hintersten Tal etwas zu holen gäbe. Nämlich die Söhne… Lauro verstand seinen Vater auch ohne diese Worte. Aber eines verstand er nun nicht mehr: Die Heiratspläne seiner Mutter.

„Ach, Junge, deine Mutter.“ Giovanni holte tief Luft, um auf Lauros Frage zu antworten. „Was wissen unsere Frauen von Politik und Kriegsdingen. Sind es Männerangelegenheiten, zumindest in diesem Fall. Deine Mutter möchte ihre Pflicht erfüllen und ihren erstgeborenen Sohn verehelichen. Und da wir eine kleine Ewigkeit fast in Ruhe leben durften, ist es ihr nicht gegenwärtig, das Unheil, das vor unserem Burgtor lauert.“

„Dann weiß sie nichts von dem unglückseligen Schrieb hier?“ Lauro wedelte mit dem Schreiben, das seine baldige Einberufung ankündigte.

Giovanni nickte. „Sieh auf das Datum, mein Sohn. Auch vor dir halte ich es seit Wochen geheim. So bitte ich dich. Sei gefällig, wenn morgen der Schneider kommt und sprich mit ihr über eine Braut. Füge dich und bete zu Gott, dass es ihre einzige Sorge bleiben möge, in einer Zeit, die ihr ganz anderen Kummer bescheren könnte als den, dass du Seidenstrümpfe zu Schnallenschuhen trägst.“

„Dem beuge ich mich, Vater. Aber dem hier“, erneut wedelte Lauro mit dem königlichen Schreiben, „dem beuge ich mich nicht. Keinesfalls beteilige ich mich an einer Schmähung  unserer Heimat!“

„Mein Sohn, sie werden dich rekrutieren! Wir stehen in Lehnspflicht!“

Auf seines Vaters Äußerung hin schüttelte Lauro energisch mit dem Kopf. „Nein, Vater, nochmals nein! Lehnspflicht ja, aber nicht Söldnerschaft! Einzig den Savoyern sind wir schuldig! Niemandem sonst!“

Giovanni seufzte. „Nun, weißt du, Lauro, es ist nicht so, als sei keine Hoffnung. Die gibt es. Sie ruht auf dem Sohn unseres entmachteten Herzogs. Emanuele Filiberto gilt als militärisch begabt und sein Vater schickte ihn schon vor Jahren in Spaniens Kriegsdienste, im großen Glauben, er erlangt auf diese Weise seinen Besitz zurück.“

„Vater, dann sind die Fronten geklärt. Dann kämpfe auch ich auf Seiten der Spanier!“

„Damit widersetzt du dich französischem Befehl und begibst dich allein deshalb in Lebensgefahr! Oh, Junge, Junge, was habe ich Angst! Längst bündelt nämlich Spanien heimlich Kräfte gegen die Belagerungsgelüste des Marschall de Brissac!“

„Wie?! Was?! Vater, bitte, verschweigt mir nichts!“

Giovanni zögerte, ließ Lauro aber dennoch wissen, dass der Marchese de Pescara im Piemont Reiterscharen zusammenzog…

„Hernach sei es so, Vater! Ich ziehe mit ihm, noch bevor die Franzosen an unser Burgtor pochen!“

Lauros Entschlossenheit wich purem Entsetzen, als er sah, wie sein Vater schwer in seinen Lehnstuhl sackte und zu schluchzen begann. „Meine Söhne. Geboren aus Liebe in ein erfülltes Leben. Nicht als Kriegsfutter…“

Lauro stürzte zu ihm. „Vater, macht Euch keine Sorgen! Ich werde auf mich aufpassen und Ihr habt doch Fausto! Versteckt ihn vor den Franzosen! Übermütig und leichtsinnig wie er ist!“ Entschieden richtete sich Lauro auf. „Mit Eurer Erlaubnis gebiete ich, dass ab sofort das Burgtor verschlossen bleibt.“

Erstaunt über diese Bestimmtheit nickte Giovanni di Montemano. „Ja, mein Sohn. Erteile den Befehl.“ Mit einem letzten Schluchzer trocknete er sich die Tränen am Taschentuch, das ihm Lauro mit festem Blick gereicht hatte. Stumm und gedankenvoll sah er seinem Sohn hinterher, als kurz darauf die wuchtige Tür ins Schloss fiel: Wie kraftvoll, wie konsequent er sein konnte, sein Erstgeborener, unerwartet gereift zur Stütze, zum Pfeiler von Montemano! Einzig diese schwere Zeit galt es zu überstehen…

Hilflos wie Giovanni sich in dem Moment fühlte, verspürte er das unbändige Verlangen, für seinen Sohn zu beten. Er erhob sich und fand den Weg in die Familienkapelle.

 

Ende Episode 3 Musik: https://www.epidemicsound.com/track/3mX9b3N3Zx/  ES_Path of Solitude – Jon Bjork

[1] Bezeichnung für Doppelzentner, im Piemont heute noch gebräuchlich