Episode 7 Des Teufels Finger I - Lügengespinst

Fortsetzung Kapitel 2

Piemont, auf dem Weg ins Monferrato im Juli 1557

Auch am folgenden Tag blieben die Vorhänge der Kutsche geschlossen.

Edelfa verkroch sich wiederum in die Polster und gab sich schweigend ihrem Seelenschmerz hin. Nicht ein einziges Mal blickte oder stieg sie aus der Kutsche. Sie träumte nur von ihrem letzten Ausritt ans Meer. Dabei hoffte sie, dass die Kutsche anhalten, und man ihr die Ankunft im Monferrato verkünden würde. Ununterbrochen rechnete sie hinter ihren geschlossenen Augen, wie lange sie wohl zurück ans Meer bräuchte, wenn sie mit Celestina zügig ritt…

Endlich hielt die Kutsche an und aus dem regen Treiben der Dienerschaft mutmaßte sie, dass man das Ziel wohl erreicht hätte.

„Sind wir im Monferrato?“ Erwartungsvoll befahl sie, ihr den Kutschenschlag zu öffnen:

Edelfa fand sich, es musste am späten Nachmittag sein, direkt vor dem Eingang eines mondänen Palazzo.

Erleichterung durchfuhr sie. Also wären es doch nicht einmal zwei Tagesreisen in einer Kutsche. Auf Celestina locker an einem Tag geritten, wüsste sie erst den Weg, und sie wäre wieder am Meer…

„Oh nein, Herrin“, zerstörte die Antwort der Dienerin ihre Illusion. „Wie uns aufgetragen, sind wir für einen zweitägigen Aufenthalt in Acqui Terme! Euch zu richten für den Herrn Bräutigam.“

Acqui Terme?“ Edelfa erinnerte sich. Der Vater hatte ihr von der Stadt erzählt. Die Lagen versprachen recht gute Rotweine. Doch wo dieser Ort genau lag, daran konnte sie sich nicht mehr erinnern.

Unterdessen sie widerwillig aus der Kutsche stieg, eilte eine vornehme Dame in Begleitung weiterer Dienerinnen auf sie zu. „Willkommen in unserem Hause, Contessa di Frattamaggiore! Wir hoffen, die Anweisungen Eurer Frau Mutter richtig vernommen zu haben und Ihr findet alles zu Eurer Zufriedenheit!“

Edelfa wusste nichts von Anweisungen. Sie fühlte sich wie zerschlagen. Ein höfliches Nicken konnte sie sich eben noch abringen in der Hoffnung, danach wieder allein zu sein:

Das ungekannte Gefühl, ihr ihren ureigenen Willen genommen zu haben, das sich in ihr nicht nur ausbreitete, sondern zunehmend manifestierte, raubte ihr sämtliche Lebensgeister. Sie folgte der diensteifrigen Dame. Gleichgültig.

 

Wenig später im Begriff, in das für sie vorbereitete Bad mit Rosengeranienöl zu steigen, drangen zuerst hämmernde Hufschläge, dann laute Rufe an ihr Ohr. Ungeachtet des Lärms glitt sie ins heiße Wasser und schickte eine ihrer Dienerinnen zum Nachsehen.

Mit deren Rückkehr stürmte auch die Signora des Hauses aufgeregt in ihr Gemach.

„Contessa di Frattamaggiore!“, japste sie nach Atem, „Ihr werdet aufgefordert, unverzüglich unser Haus zu verlassen, um im Schutz dieser Nacht unter Begleitung bewaffneter Männer zu Eurem Bräutigam zu reisen!“

„Wer fordert mich auf?“ Entgeistert hob Edelfa ihren Kopf aus dem dampfenden Badezuber.

„Der Marchese selbst, Contessa. Entgegen der Anweisung Eurer Frau Mutter!“, betonte die Signora ausdrücklich ihre letzten Worte.

Augenblicklich stieg Angst in Edelfa auf, denn sie verstand nicht.

Wollte Oreste d‘Alfero sich ihrer so schnell als möglich bemächtigen, kaum dass sie ohne väterlichen Schutz ihm quasi ausgeliefert war? Verbarg er bisher sein wahres Gesicht, das er nun offenbarte?

Sie dachte an seinen Stummelfinger. Dabei sah sie ihn als Raubritter, sah sie sich von ihm eingesperrt, in einem Turm, bei Wasser und Brot, bis sie willfährig wäre, als seine Mätresse, nicht als ehrenwerte Marchesa… Hatte ihr Vater sich wohl in ihm getäuscht?

Energisch schüttelte Edelfa mit ihrem Kopf. Sie würde tun, was ihre Mutter vorgab. „Weshalb? Nein, keinesfalls.“

„Nun, er lässt ausrichten, dass französische Truppen unweit von Asti auf dem Vormarsch wären. Und diese Gegend gilt es zu passieren, auf Eurem Weg zu ihm.“

Dies leuchtete Edelfa etwas ein. Trotzdem würde sie heute in keine Kutsche mehr steigen und in der Dunkelheit auf bewaffnete Männer vertrauen, die sie nicht kannte. „Morgen früh, meinetwegen ganz beizeiten, brechen wir auf“, entschied sie deshalb. „Doch erst, nachdem Ihr mich dem Wunsch meiner Mutter gemäß angekleidet habt. Richtet dies den Männern aus. Sie sollen hierbleiben, heute Nacht.“

„Ganz wie Ihr befehlt, Contessa.“ Mit einem erleichterten Seufzen verließ die Signora das Gemach. Auch ihr erschien eine hektische Abreise in der bevorstehenden Nacht mehr als beängstigend…

Edelfas so plötzlich aufgewühlte Sinne hatte das Rosengeranienöl wieder besänftigt. Sie verwarf ihre wüsten Gedanken. Sie vertraute auf ihren Vater: Er hatte sie sicher nicht einem Mann versprochen, ohne dies fein abgewogen zu haben. Auch war der Marchese es, der besorgt korrespondiert hatte. Nicht er der treibende Keil ihrer vorgezogenen Abreise, sondern ihre Mutter!

Entspannt lehnte sich Edelfa in ihrem Badezuber zurück. Und ebenso entspannt ließ sie sich am nächsten Morgen ankleiden und frisieren. Die Wahl war auf ihr Lieblingskleid gefallen: Ein Traum aus rosa venezianischer Seide. Edelfa wusste, wie schön sie darin aussah. Sie würde sich an ihrem Äußeren aufrechthalten, nachdem ihr Innerstes den Halt verloren hatte.

„Wie weit ist es noch?“, war ihre erste Frage an einen der vom Marchese geschickten Männer, als sie mit der aufgehenden Sonne in die Kutsche stieg.

„Wenn wir eilen, seid Ihr vor dem Abend bei Eurem Bräutigam.“

Edelfa seufzte und rechnete. „Fast drei Tagesreisen bis ans Meer. Nie wird er dir erlauben, dorthin allein zu reiten.“ Ihre Gedanken wanderten.

Vielleicht“, kam ihr eine tröstende Idee, „vielleicht schenkst du ihm bald ein gesundes Kind. Dafür bittest du ihn um ein kleines Anwesen am Meer und erklärst ihm deine Sehnsüchte.

Sofort wurde ihr ein Stück weit leichter ums Herz. Bisher hatte sie nie daran gedacht, dass sie eines Tages gebären sollte, schongleich nicht, dass sie dies wollte. Nie sah sie sich als Mutter mit einem Kind im Arm. Nie war in ihr ein derartiger Wunsch entstanden. – Doch jetzt würde sie beten, für ein Kind.

So unaufhaltsam die Kutsche ihrem künftigen Gatten entgegenrollte, so unaufhaltsam ließ Edelfa ihren Überlegungen freien Lauf. Bald wäre sie eine Ehefrau und, so Gott es wollte, auch eine Mutter.

Edelfa rief sich die warmen Augen Oreste d‘Alferos ins Gedächtnis. Vielleicht würde seine Güte an ihr Herz rühren. Vielleicht würde sie eines Tages sogar für ihn empfinden, wenn er gut zu ihr wäre. Vielleicht würde ein gemeinsames Kind sie wirklich vereinen…

Tief in ihren Gedanken warf sie auch auf dieser Fahrt keinen Blick aus der Kutsche. Erst, als laute Schreie zu ihr hallten und der Kutscher die Pferde zu rasendem Galopp antrieb, wurde sie sich der Gefahr bewusst, in die sie unversehens geraten war…

 

Piemont, Alta Langa im Juli 1557

Einsam, inmitten der unbekannten Alta Langa gelegen, von verwirrenden, bewaldeten Hügelketten umgeben und von den Flusstälern der Bormida[1] begrenzt, zeigte sich Cortemilia, die einzige als Stadt zu bezeichnende Ansiedlung der Umgegend, alles andere als lieblich:

Jeden Abend, wenn die feuchtwarme Luft des Mittelmeers von jenseits des ligurischen Apennin aufgestiegen war und sich mit der kühlen Gebirgsluft der nahen piemontesischen Alpen vermischte, jagten starke Winde zerrissene Dunstwolken über die Landschaft und peinigten Mensch und Tier. Der Düsternis dieses Naturschauspiels nicht genug, blickte man zudem auf die allgegenwärtigen Sarazenentürme, die ein finsteres Stück Geschichte lebendig hielten: Fast sah man sie noch, die Leuchtfeuer, wieder und wieder entzündet im 10. Jahrhundert, um vor den durchs Land ziehenden, mordenden und plündernden Sarazenen[2] zu warnen…

Etliche Bewohner dieser Gegend bäumten sich mutig gegen jene Widrigkeiten. Emsig betrieben sie Weinbau, wo immer die Sonne ausreichend Licht und Wärme spendete. Hierfür ungeeignete Lagen wussten sie mit edlen Haselnüssen zu kultivieren.

In gleichem Maße trotzten sie ihren Ängsten, die ihnen etwas ganz anderes bescherte:

Obwohl sie auf einer der sonnenbeschienenen Hügelkuppen oberhalb der Weinberge errichtet worden war, lag sie düster da, die Burg der Grafen zu Cortemilia. Grau in Grau erschreckte das Gemäuer. Schmucklos war es, bar jeder bunten Burgflagge oder eines anderen Zierrats, das das wuchtige, von einer hohen Mauer abgeschottete Bauwerk hätte aufhellen können.

Angstvoll sah man aus der ihr zu Füßen liegenden kleinen Stadt zu ihr auf, denn schwarz war die Farbe, die man mit den wenigen Bewohnern dieser Burg in Verbindung brachte.

Jene Furcht bestärkte die Tatsache, dass das Gestühl in der örtlichen Pfarrkirche Madonna della Pieve, welches man während der Gottesdienste ehrfürchtig für die Grafenfamilie bereithielt, seit Jahrzehnten leer stand.

Die verwitwete Burgherrin, um die sich düstere Geschichten woben, blieb ungesehen. Einzig über den Sohn wusste man vage, weil er die Verwaltung der ausgedehnten Ländereien befehligte. Unzweifelhaft, wie man sich erzählte, sei er ein ungewöhnlich schöner Mann, schlank und hochgewachsen mit pechschwarzem langem Haar. Aus seinem Antlitz von vornehmer Blässe leuchteten stechend grüne Augen, die in ihren Bann zogen. Stets zeigte er sich unnahbar, kühl, fast arrogant. Demnach war es nicht verwunderlich, dass auch ihm der Ruf des Geheimnisvollen anhaftete…

 

Auf Burg Cortemilia im Juli 1557

Emiliana di Cortemilia klopfte sich den verbliebenen Schwefeldunst aus ihren Röcken und begann zu zetern. „Emanuele, wieder habe ich mich um Ausreden gewunden wie ein Wurm! Wieder wollte ER von mir nur eines wissen: Nämlich, wann du endlich gedenkst, dich zu vermählen! ER wartet auf deine Nachkommen! Und was tust du, anstatt dir ein Weib zu suchen?! Streifst dauernd durch die Weinberge! Als ob die Reben dadurch schneller wachsen würden!“

„Schneller nicht, Mutter“, gab Emanuele gelassen zur Antwort und drehte eines ihrer Gläser in den Händen, dessen Inhalt sich ihm nicht wirklich erschloss, denn er sah in trüber Flüssigkeit eingelegte Körperteile irgendwelcher toter Reptilien vor sich. „Meine Aufmerksamkeit gilt der Qual, die die Rebe leidet, um uns den besten Wein zu schenken.“

Er stellte das Glas in eines der verstaubten, überbeladenen Regale zurück und sah ihr ernst ins Gesicht. „Dann sage mir doch bitte, Mutter, wie soll ich ein passendes Weib finden? Wie mich entscheiden, bei den unzähligen Einladungen aus den umliegenden Grafschaften, die uns erreichen? Oder an den unzähligen Abenden, zu denen wir hier auf Burg Cortemilia laden? Heiß erwartet von den heiratsfähigen Töchtern Piemonts, Liguriens, der Lombardei, des Monferrato und – nicht zu vergessen: Mailands, Genuas…“ Emanuele spöttelte.

Emiliana dagegen schnaubte. Sie war es leid, dass er ihre völlige Zurückgezogenheit, in der sie ob ihrer Umstände lebten, vorschob. „Es gibt nicht nur den Piemont und was du sonst noch aufzählst! Warum gehst du nicht…“, sie überlegte, „…nach Venedig, zum Karneval!“

„Genau, Mutter! Und wenn die holde Maid dann die Maske abnimmt, hier, nachdem sie mich erhört hat, trifft mich der Schlag.“

Wieder erntete Emiliana seinen Spott.

„Gut, mein Sohn. Das nächste Mal, wenn dein Vater erscheint, erklärst du dich IHM selbst. Sicher wird ER dir bald eine Braut bestimmen. Dann bist du an SEINE Wahl gebunden. Und IHN“, ihre Stimme wurde streng, „kannst du nicht so verspotten, wie mich.“

„Bitte verzeih mir, Mutter. Nichts liegt mir ferner, als dich zu verspotten.“ Emanuele trat zu ihr und küsste ihr entschuldigend die Stirn. „Aber sie ist mir eben noch nicht begegnet. Doch ich verspreche dir, zum nächsten Karneval reise ich nach Venedig, wenn ich dir damit eine Freude bereite.“

„Nicht mir machst du eine Freude…“ Resigniert winkte Emiliana ab und wechselte das Thema.

„Man hört, die Franzosen ziehen wieder durchs Land und verkaufen ihre Gefangenen als Sklaven. Meinst du nicht auch, wir sollten die Gelegenheit nutzen und unsere Dienerschaft vergrößern?“

„Ja, Mutter, dem sollten wir unbedingt nachgehen. Gleich morgen breche ich mit ein paar Männern auf und hole Erkundigungen ein, wo Franzosenheere lagern…“

 

Ende Episode 7 Musik: https://www.epidemicsound.com/track/xEVHN7xMqK/ ES_Payday

[1] mehrarmiger Fluss, entspringt an der Nordseite der ligurischen Alpen und mündet in den Tánaro

[2] kriegerischer Volksstamm, hier aus Nordafrika, der ausschließlich     von Piraterie lebte